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Under the shadow of a tree

Interview mit Mareike Wenzel

Das Gespäch führte Irine Jorjadze



Die Schauspielerin und Performancekünstlerin Mareike Wenzel arbeitet seit 2007 mit dem dänisch-österreichischen Performancekollektiv SIGNA zusammen.Ihr Schauspielstudium absolvierte sie mit einem BA(Hons) an der staatlichen Schauspielschule “Birmingham School of Acting” in England. Sie arbeitete unter anderem an der Volksbühne Berlin, am Deutschen Schauspielhaus Hamburg, Schauspiel Köln, Central Theater Leipzig, sowie bei den Salzburger Festspielen und beim Theatertreffen Berlin. Ferner entwickelt Mareike eigene Performances, unterrichtet Schauspiel und Performance und arbeitet als Coach.2017, gründete Mareike das georgische Kindertheater აიწონა-დაიწონა (AITSONA DAITSONA).



I: Lass uns damit beginnen, dass du in Georgien ein Kindertheater „Aitsona-Daitsona“ machst, wie bist du zu dieser Idee gekommen?

M:  Es begann damit, dass ich 2015 zur Tbilisi Triennale eingeladen wurde, um ein Projekt in Machkhaani, einem Dorf in Kacheti, zu entwickeln. Dort gab es ein leerstehendes Theater und ich wurde gefragt, ob ich dort ein Projekt machen könnte, um das Theater wieder in das Dorf zu integrieren und in irgendeiner Form wieder zum Leben zu erwecken. Generell finde ich solche Projekte eher schwierig. Wenn man in ein Dorf kommt und sagt: „Ich bin jetzt hier, ich komme aus der Stadt, ihr habt einen spannenden Ort, ich mache jetzt hier ein bisschen Theater, wir machen jetzt alle Kunst und danach haue ich wieder ab.“ Ich wollte nicht, dass ich und die Triennale Besucher*innen kommen und sagen „ach was für ein schönes Gebäude, ach wie exotisch“ und nach der Triennale hauen alle ab und die Dorfbewohner*innen und der Ort waren nichts als eine schöne Kulisse für uns und den Menschen vor Ort bleibt am Ende nichts. Ich habe dann beschlossen mit den Menschen vor Ort zu schauen, was sie wollen und wie wir zusammen etwas finden können, was wir an diesem Ort entwickeln könnten, was uns allen Spaß macht.  Besonders, was für die Menschen im Dorf von Bedeutung ist, denn es ist ja ihr Theater, ich bin dort Gast. Ich habe bald angefangen überwiegend mit den Jugendlichen und den älteren Menschen dort zu arbeiten und mit ihnen Konzepte für ihr Theater zu entwickeln und umzusetzen. So entstand ein Café als Treffpunkt im Foyer des Theaters, eine Bibliothek, einen Raum, der sich auf die Erinnerungen der älteren Dorfbewohner*innen bezog und dazu veranstalteten wir Filmabende und Workshops nach den Wünschen aller. Für die Eröffnung des Theaters entwickelte ich zusammen mit den Jugendlichen ein Theaterstück, dass lose auf "Romeo und Julia" basierte und Shakespeares Geschichte mit der von Machkhaani verknüpfte. Die Jugendlichen haben dann die Zuschauer*innen durch das ganze Dorf geführt und ihre Geschichten erzählt. Das ganze Dorf war auf den Beinen. Insgesamt war ich drei Monate dort und während meiner Vorbereitungszeit, vormittags wenn die Jugendlichen in der Schule waren, habe ich meist allein im Theater gearbeitet. Da kamen einmal Kindergartenkinder ins Theater und anfangs dachte ich: "Super, dass ihr hier seid, aber ich bin jetzt beschäftigt und habe keine Zeit" aber im selben Moment merkte ich, genau darum geht es doch: "das ist doch euer Theater, hier muss etwas auch für euch passieren!" Dann habe ich tagsüber begonnen mit den Kindern Theaterspiele zu machen. Mit meinem schlechten Georgisch, aber trotzdem, haben wir zusammen Theater gespielt. Dann ist es mir aufgefallen, wie oft ich als Kind im Theater war und wie wichtig  mir das war und was das diesbezüglich für ein Geschenk war als Kind in Berlin aufzuwachsen. Ich war andauernd mit der Schule im Theater, meistens im Grips Theater und dann auch oft noch am Wochenende. Das war toll für mich damals. Da wurde von Kindern erzählt wie von mir, wie Kindern, die ich kannte, über aktuelle Probleme und Dinge, die mit meiner Lebensrealität zu tun hatten. Die Stücke waren zum Lachen, zeitkritisch, spannend und immer mit ganz viel Musik. Ich bin praktisch mit diesem Theater groß geworden. Das war irgendwie, mein erster Kontakt mit Kultur, aber auch mit politischem Denken, ohne es mitbekommen zu haben. So dachte ich in Machkhaani, wie schön es eigentlich war, dass ich so was hatte. Als ich, nach der Triennale wieder nach Tbilisi kam, traf ich meine Freunde, viele haben Kinder und sagten, dass es im Kindertheater meist nur Märchen gibt, immer dasselbe und es eigentlich so etwas wie das Grips Theater in Georgien bräuchte. Am Ende habe ich mir sechs Schauspieler*innen geschnappt und Volker Ludwig, dem Gründer des Grips Theaters geschrieben und damit hat alles angefangen.


I: Du hast gesagt, dass du mit dem Grips Theater aufgewachsen bist. Gab es damals noch andere solche Theater, die für Kinder die gleiche Rolle spielten oder war es etwas Besonderes? Wie hat es damals funktioniert? Soviel ich weiß, hat es mit politischem Kabarett begonnen.


M: Es gab auch noch andere, aber als Kindertheater in dieser Form war das schon einzig. Das war in West-Berlin und Berlin war damals geteilt.  Das Grips feiert dieses Jahr seinen 50sten Geburtstag und ist heute eine Institution. Angefangen hat es mit einer Studenten*innengruppe, die politisch engagiert war und linkes, politisches Kabarett gemacht hat. Irgendwann haben sie beschlossen, Kindertheater zu machen, da für sie auch Kinder eine unterdrückte Klasse darstellten, mit wenig Rechten, keinem Freiraum,  in der Schule Regel,  auch zu Hause ein strenges Regime, manchmal noch körperliche Bestrafung und noch andere generelle viele Probleme. Die Kinder hatten ja kein Ort, weil sie als Bürger nicht wahrgenommen wurden.

I: Gibt es Unterschiede zwischen den Kindern von damals und heute? Haben wir heute eine andere Art von Unterdrückung? hast du deine Arbeit in Georgien begonnen auch mit diesem Punkt und gibt es Unterschiede zwischen Georgien und Deutschland?

M: Ich würde das nicht so spezifisch sagen, ich weiß nicht ob der Unterschied so groß ist. Natürlich gibt es schon Unterschiede in der Erziehung in Deutschland und Georgien. Aber, dass Kinder oft nicht ernst genommen werden, das sieht man überall. Wenn Kinder heute Schulstreiks gegen die Klimakrise organisieren, dann werden sie oft belächelt.  Dann sagt man: "Es ist so schön, dass ihr das macht, aber macht das irgendwann später, nach der Schule", sie werden nicht ernst genommen. Die Kinder werden unterschätzt. Als es mit dem Grips Theater los ging, hat Volker Ludwig Texte und Stücke geschrieben, die sich mit ganz alltäglichen Problemen auseinandergesetzt haben wie, Ärger in der Schule und den Eltern, Leistungsdrück, Sexualität, häusliche Gewalt, Umweltschutz, Luftverschmutzung. Man glaubt aber, damals wie heute, leider oft, dass die Themen nichts für Kinder sind, dass es zu früh ist mit Kindern darüber zu sprechen: "Das ist viel zu hart, die verstehen das nicht, es ist viel zu ernsthaft, die werden Angst kriegen." Man sagt immer, die Kinder sollen mit solchen Themen nicht belastet werden, das würde später schon früh genug passieren, aber später kommt ja nie. Und dann fragt man sich als Erwachsene*r: warum durfte ich damals nicht mitreden und mitbestimmen?  Und in diesen Stücken, im Theater, sitzen die Kinder und lachen und kleben an den Lippen der Schauspieler*innen und kommen noch nach der Vorstellung und wollen sich darüber unterhalten, was sie im Stück gesehen haben und sind  total in dem Stück und verstehen alles, oft viel besser als Erwachsene.

I: Aber genau wegen diesen Ideen und Haltung hat das Grips Theater am Anfang Widerstand gehabt, besonders harte Kritik kam aus der CDU. Was für eine Kritik war es, war es eine ästhetische Kritik, oder war es rein ideologisch?

M: Es war eine Kritik von rechts und aus konservativen Kreisen, angeführt von der Berliner CDU. Die sagten: "Ihr wollt die Kinder verderben!" Kinder wurden plötzlich in den Stücken ermutigt nein zu sagen, wenn sie angeschrien wurden und Widerworte gaben, sich zu wehren. Das war etwas ganz Neues und glich für Konservative gleich einer Revolte. Deswegen sagten sie, dass man im Theater die Kinder radikalisieren wollte. Das war in einer Zeit in Deutschland, gut zwanzig Jahre nach dem 2. Weltkrieg, in der sich eine junge, linke Bewegung gegen die autoritären Strukturen in Deutschland wandte, gegen die alte Strukturen und Machtverhältnisse der Nazizeit, die immer noch bestanden, da gegen wehrten sich die jungen Menschen und gingen auf die Straße. Sie haben gegen autoritäre Strukturen gekämpft und das hat die alten CDU Wähler*innen, die es sich in ihrem Wirtschaftswunder bequem gemacht und die deutsche Nazivergangenheit unter den Teppich gekehrt hatten in die Bredouille gebracht. Da wurde an ihrem System gesägt. Und dann kam da plötzlich auch ein Kindertheater, dass Kinder ernstnahm, ihnen eine Stimme gab und dazu ermunterte, dass Dinge änderbar sind. Das war plötzlich die Revolution.

I: Und wie hat das Grips Theater diesen Widerstand von rechts und von der konservativen Seite überlebt?

M: Man muss die Zeit und den Ort mitdenken, Berlin war damals noch geteilt. Das Grips Theater war in West-Berlin. Viele Dinge, die in West-Berlin funktionierten, hätten an anderen Orten nicht funktioniert. West-Berlin war ja wie eine kleine Insel, es war weit weg von der BRD. Hier zog es besonders Menschen her, die nach Alternativen suchten, es gab eine ausgeprägte alternative Szene, eine starke Hausbesetzer*innenszene, viele Menschen, die alternative Lebensmodelle ausprobieren wollten. Für Menschen, die eine Karriere im kapitalistischen Sinne anstrebten, war West-Berlin nicht attraktiv.  Der Staat subventionierte ja sogar Menschen, die nach West-Berlin zogen. Die Stadt war von einer Mauer umgeben, das hat sie natürlich nicht gerade attraktiv gemacht. Meine Eltern haben immer zu uns Kindern gesagt, wir könnten uns nie richtig verlaufen, irgendwann käme ja eh immer die Mauer. Daher gab es eine starke alternative Szene in Berlin und auch in den 60ern starke Student*innen Proteste. Das heißt aber natürlich nicht, dass der Widerstand, gerade von der CDU, gering war. Auch die hatte eine starke Lobby und erschwerte die Arbeit des Theaters, in dem es Fördermittel klein hielt.

Einen großen Anteil daran, dass das Grips ein Publikum bekam, hatten die vielen Lehrer*innen, die mit ihren Schulklassen das Grips besuchten. Viele von ihnen kamen aus der ehemaligen Student*innen Bewegung.

I: Ja, ich finde es auch interessant und sehr schön, dass die Student*innen, Aktivist*innen sehr oft als Grundschullehrer*innen gearbeitet haben.

M: Mit meinem Eltern bin ich zum Beispiel nur selten ins Grips Theater gegangen, aber dafür sehr oft mit meiner Grundschullehrerin  und dann später, als ich etwas älter war fast jede Woche mit Freundinnen. Es gab viele Lehrer*innen, die das Grips unterstützten, aber es war nicht leicht, es hätte genauso gut sein können, dass es nicht funktioniert hätte. Es gab Geld Probleme und es hat einige Jahre gedauert, bis sie ein Haus bekamen. Mittlerweile hat sich viel geändert. Dinge, die damals als radikal galten, sind es heute nicht mehr. Das Grips Theater hat jetzt eine Stellung in Berlin und Deutschlandweit, als bekanntestes Kindertheater und sogar die CDU spricht positiv über das Theater.  Trotzdem haben Kindertheater immer besonders um Gelder zu kämpfen.

I: Was ist eigentlich Methodologie des Theaters, wie und was wird vermittelt? Wie wird geforscht? Und wie wird  der Raum organisiert?

M: Es geht darum, Kindern eine Stimme zu geben, es wird auch oft emanzipatorisches Theater genannt. Das Theater versucht verschiedene Probleme aufzuzeignen und wendet sich gegen verschiedene Formen von Unterdrückung. Es geht nie darum, von oben nach unten zu belehren, es ist ganz klar antiautoritär. Es geht darum Geschichten zu erzählen, aufzuzeigen wo Probleme sind, dass die Welt nicht schwarzweiß ist und darum Mut zu machen, sich etwas zu trauen, Dinge zu verändern. Deshalb wird das Grips auch oft Mutmach-Theater genannt. Es geht nicht so sehr um Utopie, sondern darum, dass die Dinge veränderbar sind. Das heißt nicht, dass immer alles funktioniert und dass Kinder, wenn sie die Dinge selbst in die Hand nehmen alle Probleme lösen können und dann wird alles gut.

Einfach zu zeigen, dass man nicht allein ist. Es geht auch darum zwischen Schauspieler*innen und Zuschauer*innen eine Solidarität aufzubauen und das geht sehr viel über das Lachen. Volker Ludwig sagt immer, dass das Lachen unheimlich wichtig ist. Natürlich geht es oft um Ernstes und auch Trauriges, aber es wird auch viel gelacht und wenn du zusammen lachst, dann bist du nicht mehr allein. Im Theater sieht man Menschen, die die gleichen Probleme haben, wie du und die reagieren genauso wie du. Auch beim Bühnenarrangement geht es um Gleichberechtigung, es ist ein Amphitheater ohne gehobene Bühne. Die Bühne ist ebenerdig, das heißt, die Kinder sitzen mit auf der Bühne. Es gibt kein Oben und Unten. Niemand erzählt von oben, wie die Welt ist, man sagt dagegen: ihr seid Teil des Theaters. Zwar ist es kein interaktives Theater wo die Kinder mitspielen, aber wenn die Kinder reagieren, dann gehört das dazu und niemand sagt, sie sollen leise sein.

I: Du hast über die Solidarität gesprochen und wie sie durch Theaterstücke vermittelt wird.  Wie funktioniert das Grips Theater selbst als Organisation?

M: Das Grips Theater hat selbst ein Mitbestimmungsmodell. Alle werden in Entscheidungen eingebunden, von Schauspieler*innen bis Bühnenarbeiter*innen. Es ist eine gemeinschaftliche Arbeit.

I: Ist es auch so bei euch bei „Aitsona Daitsona“?

M: Ja, das ist aber auch nicht schwierig, denn wir sind ja auch ein ganz kleines Team. Ich habe das Theater mit drei anderen gegründet, das sind Mariam Gabritchidze, Lili Mamulashvili und Natia Kavtardze und dann kamen drei weitere Schauspieler dazu. Ich habe Grundstruktur gegeben, aber wir beschließen alles zusammen. Wir sind jetzt gerade an dem Punkt, an dem wir keine Finanzen mehr haben und zur Zeit, sitzen wir zusammen, um zu sehen, wie wir weiter machen. Bei sieben Leuten es ist relativ einfach gemeinsam Entscheidungen zu treffen.


I: Wie ist es mit „Aitsona Daitsona“ machst du diese Stücke nach den Stücken vom Grips Theater?

M: Wir haben jetzt zwei Stücke vom Grips Theater, von denen ich dachte, dass es wichtig und spannend wäre, die hier zu zeigen. Dazu kommt ein eigenes Stück, dass wir selbst erarbeitet haben. Unser erstes Gripsstück ist „Mann o Mann“, was wir hier „Sachlobana“ genannt haben. Da geht es um die häusliche Gewalt und Genderfragen. Es geht um Kinder und ihre Eltern und deren alltägliche Probleme. Es ist dabei wichtig, dass es nicht darum geht zu erzählen, dass jemand böse ist, sondern die Hierarchien und Machtstrukturen aufzuzeigen, die dazu führen, dass Probleme entstehen und Menschen dadurch in einer bestimmten Form reagieren. Es geht nicht darum, dass der Vater, der sich im Stück oft aggressiv der Familie gegenüber verhält, einfach böse ist. Er har auch Probleme auf der Arbeit, wird stets bei seinem Chef angeschrien, die Familie hat nicht viel Geld. Es geht um das kapitalistisches System, wo es nur darum geht Sachen weiter nach unten zu treten und je tiefer es geht, desto schwerer wird es, und die Kinder sind auf der untersten Stufe.

I: Und es ist am wichtigsten zu wissen, woher der Ärger kommt.

M: Ja, es geht nicht darum, dass der Vater die Kinder nicht liebt oder ein schlechter Mensch ist. Die Frage ist: Wie finden wir die Lösung? Es ist nicht so, dass die Eltern in den Stücken die Lösung finden, sondern das sind die Kinder. Sie denken mit und hinterfragen die Situation. In "Sachlobana" ist das so, dass die Kinder beschließen wegzulaufen, weil es nicht mehr aushalten, wie der Vater sie und die Mutter behandelt. Zufällig sehen sie, wie der Vater von seinem Boss behandelt und angeschrien wird und wie schlecht es ihm geht, weil er sich nicht zu helfen weiß. Da fragen sie sich, warum er sich nicht wehrt. Er ist doch Erwachsen, er soll etwas tun! Dann bemerken sie: „Ja, aber wir sind auch gerade weggerannt! Er macht eigentlich das gleiche! Wenn wir etwas ändern wollen, dann dürfen wir nicht weglaufen, sondern sollten uns zusammensetzen und zusammen überlegen was wir jetzt machen.“ Genau das tun sie und finden als Familie eine Lösung.

I: Wie war es hier? Wo hast du die Stücke gezeigt und wie waren die Reaktionen? Du hast die Stücke wegen ihrer Aktualität gewählt, wie hat es funktioniert was passiert nach dem Stück?


M: Wir haben „Sachlobana“ ca. 30 Mal gespielt und „Shavi Nisli“, unser zweites Stück vom Grips (im Original "dicke Luft"), ca. 20 Mal. In „Schavi Nisli“ geht es um Umweltverschmutzung. Wir haben in Schulen, Jugend- und Kulturzentren hauptsächlich außerhalb von Tbilisi gespielt. Am Anfang waren wir unsicher, wie die Stücke angenommen werden würden. Aber die Bedenken sind bald verflogen. Zum Beispiel haben wir "Sachlobana" in einem IDP Settelment gespielt. Dort waren die Leute erst verhalten, aber während des Stücks haben alle Kinder mit gefiebert und waren sehr involviert. Am Ende kam die Leiterin des Zentrums und hat mich gefragt, ob wir nochmal kommen wollten und nicht nur für Kinder, sondern auch für Erwachsenen spielen, alle sollten das Stück sehen.  Das war toll und hat uns gezeigt, wie wichtig diese Art von Theater ist. Es ist schön, wie Stücke für alle Altersstufen funktionieren.

Natürlich gibt es auch hier manchmal dieselben Stimmen wie beim Grips Theater, die sagen, dass das zu früh für Kinder ist, aber die Kinder wollen am Ende immer bleiben und fragen jedes Mal, wann wir endlich wiederkommen. Die Schauspieler*innen sind Helden für die Kinder. Nach den Vorführungen setzen wir uns immer mit den Kindern zusammen und fragen nach ihren Meinungen: Was hat euch gut gefallen, was nicht, kennt ihr diese Probleme und so weiter? Das sind immer ganz spannende und tolle Diskussionen und die Kinder sind wahnsinnig involviert und erzählen auch sehr viel. Oft bleiben wir danach noch und spielen mit ihnen. Wir haben auch ein eigenes Stück gemacht "tamashi", bei dem geht es um Schulprobleme, Leistungsdruck, Arbeitslosigkeit, den Druck zu entscheiden, was man werden will und wie man sich Freiraum verschaffen kann. Das Stück endet mit einer Art kleiner Demonstration, zu der die Kinder und Jugendlichen aufgerufen werden und ihre Meinungen und Wünsche einbringen sollten. Wir haben ihre Ideen gesammelt und dann zusammen Poster gemalt. Manchmal bleiben wir auch einfach und singen, spielen und tanzen zusammen.

Ich hatte letztens ein Gespräch mit jungen Künstler*innen, die fragten, wie man ein Publikum bekommt, um bestimmte Diskurse anzuregen, denn zu den Kunstveranstaltungen kommen ja immer nur dieselben Menschen. Und natürlich heißt es, dass wenn du Menschen aus anderen Gruppen erreichen willst, dann musst du oft aus den gängigen Kulturveranstaltungsorten rausgehen, zu den Menschen hin.  Wenn wir jetzt zum Beispiel im Rustaveli Theater spielen würden, dann kämen da die Leute hin, die dort sonst auch hingehen. Das heißt bestimmt nicht, dass sie unser Theater nicht brauchen oder die Stücke nicht für sie sind, aber wir würden sehr viele Kinder nicht erreichen. Es geht  vor allem auch um Kinder, die sonst keine Möglichkeit haben ins Theater zu gehen.


I: Siehst du es als eine pädagogische Arbeit? Was ist der Unterschied zwischen Kunst zu machen und pädagogische Kunst zu machen? Weil radikale Pädagogik ja gleiche Ansätze hat, zum Beispiel die Problematisierung wie bei Freire – kritisches Wissen zusammen zu produzieren.  Und denkst du, dass man diese Ansätze von Theater in die Unterrichtsstruktur integrieren kann?


M: Ich bin ja keine Pädagogin, sondern Schauspielerin und Regisseurin. Ich will etwas vermitteln, aber nicht erziehen. Für mich ist es wichtig Freiraum zu schaffen und es geht um Zusammenarbeit. Aber natürlich geht es, wie du schon sagst auch um kritisches Wissen, in der Beziehung ist es vielleicht auch pädagogisches Theater, aber ich will Anregung geben und nicht lehren. Wenn man es im Schulalltag, im pädagogischen Kontext umsetzen will, dann geht es ja in erster Linie um die direkte Arbeit mit Kindern, also um das Theaterspielen mit Kindern. Bei "Aitsona Daitsona" spielen erwachsene Schauspielr*innen für Kinder,  wir treten in einen Diskurs mit den Kindern. Wir haben die Stücke auch schon in Schulen gespielt und die Nachbearbeitung der Stücke im Unterricht mit den Lehrer*innen gehört natürlich auch zu einem pädagogischen Konzept und ist sehr erwünscht.

Aber du willst glaube ich auf die direkte Arbeit mit Schüler*innen hinaus, also das Theaterspielen mit Kindern in der Schule. Es gibt Schultheater, da wird Shakespeare oder Schneewittchen gespielt, die Kinder lernen Texte auswendig, aber es findet keine Auseinandersetzung mit dem Thema statt. Das ist für mich nichts anderes, als der ganz normale Schulalltag des Auswendiglernens.  Die Theaterarbeit mit Schüler*innen ist dann am spannendsten und fruchtbarsten, wenn gemeinsam etwas entstehen und entwickelt werden kann. Aber es ist auch am Schwierigsten und da muss man sehr aufpassen.  Es gibt da oft zwei Grundsituationen, die solche Projekte scheitern lassen können. Entweder sind da Lehrer*innen, die Kunst machen und sich künstlerisch ausleben wollen oder auf der anderen Seite, gibt es Künstler*innen, die sich als Pädagog*innen ausprobieren wollen und das geht meist beides schief. Vielleicht nicht immer, aber da muss man sehr aufpassen und die Kunst liegt darin, etwas dazwischen zu finden und sich immer zu fragen: Worum geht es gerade, um die Arbeit mit den Schüler*innen oder mache ich das gerade für mich? Was wollen die Schüler*innen eigentlich?  Warum machen wir das?

Das gilt nicht nur für die Theaterarbeit mit Schüler*innen, sondern mit den verschiedensten Gruppen. 2015 war ich zum Beispiel in einer Initiative für geflüchtete Menschen aktiv, das hatte nichts mit Theater zu tun. Wir haben privat die Erstversorgung für die Menschen, die ohne alles in Berlin ankamen und zuvor oft monatelang unterwegs waren, organisiert und koordiniert. Jeden Tag bekamen wir Emails mit Angeboten für Hilfe, die Leute wollten helfen mit Kleiderspenden, Unterkunft, Übersetzungen, Anträge ausfüllen, wir waren Anlaufstelle für alles Mögliche. Dazu bekam ich sehr oft  Emails von Künstler*innen, Regiseur*innen, Schauspieler*innen, die von uns geflüchtete Menschen für ihre Projekte vermittelt bekommen wollten. Da ging es meist nicht um die Menschen, sondern um das eigene Image und Ego. Auch da muss man sich immer fragen, geht es bei solchen Projekten wirklich um die geflüchteten Menschen oder um die Person, die das Projekt leitet? Für wen ist dieses Projekt? Ist es für diese Person jetzt richtig und wichtig Theater zu spielen, oder mache ich das, weil es gut in meiner Vita aussieht?

In den letzten Jahren hat sich eine Art von "sozialem Theater" entwickelt, das ich sehr kritisch sehe und das oft an der Schwelle zum Voyeurismus steht. Genau deswegen muss man sehr aufpassen, wie man arbeitet. Es ist im Theater zum Beispiel zu einer Art Trend geworden, mit sogenannten "Randgruppen" zu arbeiten und sie in kleinen Szenen in konventionellen Stücken zusätzlichlich zu den "richtigen" Schauspieler*innen auftreten zu lassen. Da gibt es dann plötzlich einen Chor von Prostituierten oder anderen Gruppen, die eher zur Schau gestellt und oft exotisiert werden, als dass sie wirklich in das Stück einbezogen, geschweige denn daran beteiligt werden. Oft werden sie auch kaum oder wahnsinnig schlecht bezahlt. Das hat dann mit Partizipation nichts mehr zu tun, sondern nur noch mit Ausbeutung im Interesse der Eitelkeit, der ausführenden Künstler*innen.

Die Arbeit mit Schüler*innen ist gut und wichtig, aber Theater ist etwas sehr Persönliches und gerade, wenn du gemeinsam Stücke entwickeln willst, die auf Erfahrungen oder Problemen der Teilnehmenden basieren, musst du sehr sensibel sein. Ich habe letztes Jahr zusammen mit meiner Kollegin Mariam Gabritchidze viele Workshops für Lehrer*innen zu dem Thema gegeben. Was wir immer betont haben ist, dass es wichtig ist als erstes einen Raum für alle zu schaffen, an dem sie sich alle sicher fühlen, sich frei zu äußern und auszuprobieren, ohne Druck und Wertung und aus dem sie sich auch jeder Zeit wieder herausnehmen und sagen können, wenn ihnen Dinge zu nah gehen. Beim Theaterspielen öffnet man sich ja sehr und ist sehr verletzlich, besonders, wenn man biografisch arbeitet - man darf nie die Leute auf der Bühne ausstellen. Ich finde es sehr schwierig, wenn es bei dieser Art von Theater gar keine künstlerische Überhöhung gibt, sondern alles eins zu eins, also ganz authentisch dargestellt wird, die Amateurdarsteller*innen sich also selbst spielen. Es gilt aus den Geschichten und Themen der Teilnehmenden etwas Eigenes zu entwickeln und wenn man da den richtigen  Grat findet, kann es total spannend sein. Das braucht viel Zeit und viel Vertrauen. Wenn man in einer Gruppe zusammenkommt, muss man die Geschichten zusammen entwickeln und bearbeiten und entscheiden, was man erzählen kann und will und was nicht. Als Gruppenleiter*in muss man einen Raum schaffen, wo man alles zusammenbringt und wo alles besprochen und ausprobiert werden kann.  Ein anderer Risikofaktor ist der Druck, auch wenn am Ende ein Stück stehen soll, das auch künstlerisch interessant ist, muss man aufpassen, dass kein Leistungsdruck ausgeübt wird. Das bedarf einer sehr sensiblen Leitung, die eine Struktur und einen Rahmen schafft und alles zusammenhält, ohne Druck auszuüben und trotzdem allen einen großen Freiraum lässt.  




2019






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